Die Verwendung volksmusikalischer Elemente in der Kunstmusik hat bekanntlich eine lange, bis auf das Spätmittelalter zurückreichende Tradition. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielt diese Praxis vor dem Hintergrund des aufstrebenden Nationalismus eine neue Bedeutung und Qualität. Diente sie so manchem Komponisten als demonstrativer Verweis auf die Verwurzelung mit seiner Heimat und zugleich als selbstbewusstes Gegengewicht zur damaligen Dominanz deutsch-österreichischer Musik – man denke etwa an Edvard Grieg oder Antonín Dvořák –, so führten andere Musiker mit großem Erfolg den exotischen Reiz fremdländischer Klänge vor.

Wie kaum ein anderer profitierte von der Mode solcher nationalen Idiome der Geigenvirtuose Pablo de Sarasate (1844–1908), der in seinen eigenen Kompositionen Anleihen an die Volksmusik zahlreicher europäischer Länder und Regionen machte. Als beispielsweise nach dem Erfolg von Georges Bizets Carmen (1875) das spanische Kolorit en vogue war, schrieb Sarasate vier Serien Spanischer Tänze (1878–82) sowie eine Carmen-Fantasie (1881), ein Potpourri über die populärsten Melodien der Oper.

Die Anregung für seine Zigeunerweisen, die Anfang 1878 im Leipziger Verlag B. Senff in der Originalbesetzung für Violine und Klavier erschienen (die Orchesterfassung folgte 1881), dürfte Sarasate bei einem Aufenthalt in Budapest im Frühjahr 1877 erhalten haben. Er besuchte Franz Liszt, gab einige Konzerte und hörte – nach eigenem Bekenntnis – volkstümliche Lieder und Tänze, die die damals weit verbreiteten sogenannten Zigeunerkapellen zu Gehör brachten. Wie alle seine Zeitgenossen, so setzte auch Sarasate die ungarische Volksmusik mit der „Zigeunermusik“, also der Musik der in Ungarn lebenden Roma, gleich. Für seine vermutlich im Sommer/Herbst 1877 entstandene Komposition, gleichsam als „Souvenir“ an diesen Ungarn-Aufenthalt entstanden, wählte er nicht nur die charakteristische Form des Csárdás mit langsamen Beginn („lassú“) und schneller, sich steigernder Weiterführung („friss“), sondern entlehnte auch alle Themen populären ungarischen Musikstücken.

Während Sarasate bei diesen Übernahmen die bereits durch Volksliedsammler und Komponisten arrangierten Tänze und Lieder durch Verzierungen, Läufe, Kadenzen und Einschübe weiter bearbeitete, liegt der Fall bei der Entlehnung der Melodie zum dritten Teil seiner Komposition (Un peu plus lent, T. 45 ff.) anders. Hier geriet der spanische Virtuose wenige Jahre nach Veröffentlichung der Zigeunerweisen unter Plagiatsverdacht. Dies lässt zumindest der erhaltene Entschuldigungsbrief vermuten, den Sarasates Klavierbegleiter und Sekretär, der deutsche Pianist Otto Goldschmidt, in dessen Auftrag an den ungarischen Komponisten Elémer Szentirmay (Künstlername für János Németh, 1836–1908) schrieb.

Übertragung:

Petersburg, 10. Dec. 1883
Geehrter Herr,
Herr Sarasate, der nicht deutsch
versteht, beauftragt mich[,] Ihnen zu sagen,
daß Ihr Wunsch betr[effs] des Aufdruckens
auf Ihr so schönes Lied besorgt wird.
Ich habe an Herrn Senff bereits darüber
geschrieben.
Wir sprechen Ihnen hiermit für
Ihre so schöne Inspiration unseren
Glückwunsch aus. Herr Sarasate hatte
die Melodie von Zigeunern gehört, &
man hatte ihm gesagt, sie sey populär,
weshalb er sie ohne Weiteres benutzte.
Desto besser daß der glückliche Autor
auch populäre Lieder * hat.
Ihr ganz ergebener
Otto Goldschmidt
* Volkslieder

Demnach wollte Szentirmay keine Entschädigung, sondern bestand lediglich darauf, als Urheber jener so einprägsamen Melodie genannt zu werden. Sie stammt aus Szentirmays 1873 komponiertem Lied „Csak egy szép lány van a világon“ (Nur ein schönes Mädchen gibt es auf der Welt) und wurde von Sarasate, wie der Vergleich zeigt, nahezu unverändert übernommen:

Szentirmay, Csak egy szép lány van a világon

 

Sarasate, Zigeunerweisen

Sarasates Entschuldigung, ihm wäre gesagt worden, die Melodie sei „populär“, so dass er sie „ohne Weiteres benutzte“, das heißt: ohne Nachforschung nach dem Autor, erscheint auf den ersten Blick plausibel. Auf den zweiten Blick stellen sich jedoch Zweifel ein. Szentirmays Lied wurde zwar rasch bekannt, aber 1877, erst vier Jahre nach der Komposition, dürfte es bei aller Popularität doch noch fest mit seinem Namen verbunden gewesen sein. Hinzu kommt, dass Sarasate während seines Zusammentreffens mit Liszt aller Wahrscheinlichkeit nach sein Interesse an „Zigeunermusik“ geäußert haben wird. Insofern war es naheliegend, dass der Altmeister ihm seine Schülerin Ilonka von Ravasz vorstellte, die ihm selbst ungarische Kunst- und Volkslieder vermittelt hatte. Ja, es ist nicht undenkbar, dass Sarasate das Lied nicht durch „Zigeuner“, sondern durch Ilonka kennenlernte – war sie doch die Nichte Szentirmays.

Sarasate hielt Wort und ließ in den Nachdrucken ab 1884 zu Beginn des betreffenden Abschnitts in seinen Zigeunerweisen die Bemerkung hinzusetzen „Melodie von Scentirmay Elemir [sic] dala [= ungarisch: Lied von] mit gütiger Erlaubnis des Componisten benutzt.“

Fakt ist, dass Sarasate sich nicht um den Urheber der Melodie kümmerte oder – noch prekärer, falls er wusste, dass es sich nicht um ein Volkslied handelt – versäumte, dessen „gütige Erlaubnis“ einzuholen. Jedenfalls scheint er trotz der klarstellenden Fußnote ein schlechtes Gewissen gehabt zu haben. In der einzigen heute verfügbaren Aufnahme seiner Zigeunerweisen von ca. 1904 ließ er spontan mit kurzem Hinweis an den Pianisten diesen dritten Teil seiner Komposition weg und sprang direkt zum abschließenden Allegro molto vivace:

In den Zigeunerweisen stammt zwar kein einziges Thema von Sarasate, aber die originelle Leistung des Arrangements dieser „geklauten“ Melodien für Violine und Klavier bzw. Orchester dürfte ihm sicherlich niemand absprechen. In unserer in Vorbereitung befindlichen, von Ernst-Günter Heinemann herausgegebenen Edition (HN 573), die in der Partitur die originalen Strichbezeichnungen und Fingersätze Sarasates sowie eine unbezeichnete und eine von Ingolf Turban bezeichnete Solostimme enthält, werden sowohl die Entlehnung der Melodien als auch der Fall „Szentirmay“ erstmals umfassend dokumentiert.

Ohne Zweifel wäre ein Titel wie „Fantasie über populäre ungarische Melodien“ treffender und angemessener gewesen, aber wer wird es Sarasate verdenken, dass er mit Blick auf das Publikum den so griffigen Titel Zigeunerweisen wählte?

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