Vor fast drei Jahren, am 17.2.2014 erschien mein Blog-Beitrag zu einer luxuriös ausgestatteten Henle-Urtextedition von Bachs Triosonate BWV 1038. Damals schrieb ich, wir rüsteten Nachdrucke barocker Kammermusik auf, um auch diese mit Continuo-Partitur, zusätzlicher Basso-Stimme etc. auszustatten. Was in diesem Beitrag unerwähnt blieb, sich aber eigentlich von selbst versteht: Auch Neuausgaben in Continuo-Besetzung erhalten die thematisierte opulente Ausstattung. Kürzlich ist mal wieder eine derartige Luxus-Ausgabe erschienen, und darauf möchte ich an dieser Stelle hinweisen: Telemanns Methodische Sonaten, Teil I, mit den Sonaten 1–6 (HN 1266).

Schon in der Bandaufteilung liegt eine Besonderheit, die viele Musiker freuen wird. Erstmals sind alle 12 Sonaten in nur zwei Bänden erhältlich (Teil II mit Sonaten 7–12 wird Mitte 2017 erscheinen). Diese Zweiteiligkeit ist nicht nur praktischer als die bisher erhältlichen Ausgaben in 6 oder 4 Bänden, sie folgt zudem der Überlieferung in den Quellen. Denn Telemann veröffentlichte 1728 zunächst unter dem italienischen Titel „Sonate metodiche“ die Sonaten 1–6 und ließ, vermutlich angespornt durch den großen Erfolg dieser Sammlung, erst 1732 einen zweiten Band mit weiteren sechs Sonaten folgen, diesmal unter französischem Titel „Continuation des Sonates méthodiques“. Die beiden 6er-Gruppen von Sonaten sind also von Telemann durchaus als zwei gesonderte Einheiten konzipiert, und daran schließt unsere Ausgabe erstmals an.

In der Ausstattung geben wir alles. Der „Clavier“-Partitur mit kleingestochener Generalbass-Aussetzung und mitlaufender Solostimme (gemäß Quelle in den Kopfsätzen jeweils in verzierter und unverzierter Form) liegen drei Stimmhefte bei:

  • Solostimme, in der im Kleinstich der Basso Continuo mitläuft. Dies ist wichtig für jene Flötisten und Geiger, die ornamentieren wollen und dafür die harmonischen Verläufe sehen möchten.
  • Basso-Continuo-Stimme, in der die Solostimme mitläuft. Continuo-Spieler, die den Generalbass improvisieren möchten, können auf dieser Grundlage die Solostimme verfolgen.
  • Basso-Stimme,mit Generalbass-Ziffern. Auch für das stilgerechte Musizieren der Bass-Stimme (etwa von einem Cellisten) ist es aufschlussreich, die harmonischen Ereignisse mitverfolgen zu können.

Partitur

Flöte / Violine

 

 

 

 

 

 

 

 

Basso Continuo

Basso

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Klicken Sie zum Vergrößern auf die Bilder.

Eigentümlichkeiten der Notation und deren Bedeutung für die Spielpraxis werden vom Herausgeber und Alte-Musik-Experten Wolfgang Kostujak in einem Abschnitt „Anmerkungen zur Aufführungspraxis“  erläutert.

Nach diesem Blick auf die Henle-Neuausgabe der Methodischen Sonaten aus der Vogelperspektive nun noch ein paar Worte zur Edition selbst. Die Quellenüberlieferung ist ein Glücksfall. Telemann hat nicht nur (wie man es von einigen Komponisten im besten Fall sagen kann) die Erstausgabe autorisiert – er war sogar federführend an allen Produktionsstadien beteiligt. Sie wurde allem Anschein nach von ihm höchstpersönlich gestochen, erschien im Selbstverlag und wurde vom Komponisten vertrieben. Hinzu kommt eine außergewöhnliche Sorgfalt, die Telemann beim Stich walten ließ. Die Erstausgabe beansprucht also nicht nur höchste Autorität, sie ist zudem von einer Zuverlässigkeit, die kaum Wünsche offen lässt.

An ganz wenigen Stellen kommt es zu Widersprüchen im Notentext, so etwa in Sonata quarta, 2. Satz (Presto), T. 63. Hier notiert Telemann als letzte Note der Solostimme ein a2. Die Generalbass-Bezifferung setzt hingegen unter das e im Bass eine 2 und eine 4+, was eine Harmonie mit fis und ais ergibt. ais im Continuo steht gegen a in der Solostimme. Vergaß Telemann in der Solostimme das Kreuzvorzeichen vor a2, meinte also folglich ais2? Oder unterlief ihm beim Stechen der Generalbassziffern ein Fehler, und eigentlich sollte dort 4 statt 4+ stehen? Entscheiden lässt sich das nur schwer, denn beide Lesarten sind denkbar.

Telemann, Methodische Sonaten, Bd. I, Sonata quarta, TWV 41:D3, 3. Satz. Erstausgabe, (T. 62-64).

Telemann, Methodische Sonaten, Bd. I, Sonata quarta, TWV 41:D3, 3. Satz. Henle-Edition (T. 60–65). Zum Vergrößern anklicken.

Dem Herausgeber unserer Edition Ausgabe standen in solchen – zugegebenermaßen seltenen – Fällen neben der autorisierten Erstausgabe zwei weitere Quellen zur Verfügung. Es handelt sich um zeitgenössische Abschriften (Sigel AB2 und AB3, siehe die Bemerkungen), deren Bezug zum Komponisten unklar ist. Sie weisen in den Kopfsätzen keine verzierten Fassungen der Solostimme auf und verzichten damit auf jenen Teil der Sammlung, der die Sonaten erst „methodisch“ macht (dazu siehe das Vorwort des Herausgebers). Die Abweichungen von der Erstausgabe lassen die Frage aufkommen, ob die Kopisten bei der Niederschrift eigenmächtig in den Notentext eingriffen, oder ob ihnen eine Vorlage zur Verfügung stand (eine „Frühfassung“?), die sich auf den Komponisten selbst zurückführen lässt. Eine definitive Antwort auf diese Frage müssen wir Ihnen schuldig bleiben. Angesichts der Autorität der Erstausgabe erschien es uns jedoch ausgeschlossen, die Abschriften als Quellen für die Edition zu berücksichtigen. Dennoch: Hin und wieder bieten sie einen interessanten Anhaltspunkt, wie Zeitgenossen Telemanns mit den punktuellen Widersprüchen der Erstausgabe umgingen; sie werden daher gelegentlich zum Vergleich hinzugezogen – so auch bei der oben vorgestellten Textfrage.

In der Abschrift AB3 entschied sich der Kopist, die Generalbassbezifferung an die Solostimme anzupassen, er schrieb also 4 statt 4+

Aus der Abschrift AB3 (T. 62-64).

Dieser Befund bestärkte unseren Herausgeber in seiner Entscheidung, ebenfalls a2 und 4 zu edieren. Wie oben gezeigt, wird dieser Eingriff in den Text der Erstausgabe aber mit einer Fußnote und entsprechender Bemerkung transparent gemacht.

Aus den Bemerkungen der Henle-Edition.

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