Zum Einstieg eine wundervolle kleine Teufelei

Links Maurice Ravel am Pariser Conservatoire 1895

Kommt man neu in ein Unternehmen, ist es sehr angenehm, wenn einem die Kolleginnen und Kollegen liebevoll das Terrain bereiten. Die Idee, mir bei meinem Einstieg in den G. Henle Verlag als erste Edition die überschaubare Sérénade grotesque von Maurice Ravel (1875–1937) auf den Tisch zu legen, zeugte somit von großer Zuwendung – und diente allenfalls sekundär dazu, mir ein bisschen auf die Finger zu schauen, wie ich mit diesem Stück in relativer kurzer Zeit sämtliche Arbeitsschritte, die zu einer Urtextedition gehören, durchlaufe. Was niemand ahnte: Das Stück erwies sich bald als kleine Teufelei, deren Bewältigung den kompletten editorischen Werkzeugkasten erfordert. Obwohl sich der Quellenvergleich weitgehend auf das Autograph und die postume Erstausgabe beschränken kann, quillt er über vor Unterschieden der beiden Notentexte, die es in den Griff zu bekommen gilt. Weiterlesen

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„Le Maître des Charmes“ – Zu Gabriel Faurés 100. Todestag

Gabriel Fauré (1845–1924)

Welche Kompositionen verbindet man mit Gabriel Fauré? Sicher das Requiem und vermutlich die Pavane sowie die Orchestersuiten Pelléas et Mélisande und Masques et Bergamasques, auch einige Kammermusikwerke wie die erste Violinsonate A-dur op. 13, die Berceuse op. 16, die Élégie op. 24 oder die Sicilienne op. 78 – aber darüber hinaus? Es ist nicht übertrieben, von Fauré im Hinblick auf sein Gesamtschaffen mit immerhin rund 200 Werken als einem weitgehend unbekannten Komponisten zu sprechen, auch wenn jedem Klassik-Fan sein Name geläufig sein dürfte. Er gehört zu jener Gruppe von Autoren, die postum immer stärker in den Schatten von Zeitgenossen gerieten. Die neue französische Musik der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ist so fest mit den Namen Claude Debussy und Maurice Ravel verbunden, dass dadurch der Blick auf einen der Wegbereiter dieser neuen Musik – und das war Fauré zweifellos – bis heute verstellt wird. Weiterlesen

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Zäh halten sich die Fehler der Alten. Zum Solo-Einstieg der Geige in Mozarts Violinkonzert in D-dur KV 218

Mozart, Violinkonzert D-dur, KV 218,
hrgs. v. Ferdinand David 1865,
A-Sm Rara 218/5

Man könnte als Urtext-Herausgeber manchmal verzweifeln: Da bietet man der Musikwelt einen gesicherten Notentext, aber diejenigen, denen unsere ganze Arbeit gilt, ignorieren die neuen Erkenntnisse für ihr Spiel und für ihren Unterricht.

Ein Beispiel gefällig? Neulich hörte ich einen jungen, sehr begabten koreanischen Geiger das D-dur-Konzert KV 218 (HN 680) von Mozart spielen. Abgesehen davon, dass er auf den zumindest in der historisch-informierten Aufführungspraxis als „common sense“ geltenden Standard, als Primarius die Tuttipassagen mitzuspielen und das Orchester zu leiten, leider verzichtete, hörten wir im Detail all jene kleinen Notenfehler und subjektiven Bearbeitungsergänzungen, die letztlich auf Ferdinand Davids Erstausgabe von 1865 zurückgehen. Weiterlesen

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Arnold Schönberg zum 150. Geburtstag – die Wahrheit in der Musik (und in der Edition)

Dieses Zitat Arnold Schönbergs bringt für mich die Haltung des Komponisten zur Musik zum Ausdruck – nicht nur zu seiner eigenen, sondern zu Musik überhaupt. Die Ernsthaftigkeit, mit der Schönberg nach Wahrheit in der Musik strebte, sucht ihresgleichen. Dass diese Haltung auch eine gewisse Kompromisslosigkeit bedeutete, davon wird weiter unten noch die Rede sein…

In wenigen Tagen feiert die Welt Arnold Schönbergs 150. Geburtstag – der G. Henle Verlag feiert natürlich mit! Anlass genug, einmal innezuhalten und die Bedeutung Schönbergs für unseren Katalog zu beleuchten. Weiterlesen

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Wenn wir den Zufall nicht hätten … Zur Wiederentdeckung einer Prokofjew-Quelle

Anhänger von sogenannten „True Crime“-Formaten, also von Berichten über wahre Kriminalfälle, wissen nur allzu gut, welche große Rolle der Zufall bei der Aufklärung von Verbrechen spielt. Da werden wochen- oder monatelang Hinweise verfolgt, die ins Nichts führen – dann aber zeigt sich eine Querverbindung, die zur heißen Spur wird. Oder bei einer erneuten Zeugenbefragung kommt ein bislang nicht bekanntes oder nicht beachtetes Detail zum Vorschein, das den Tathergang in einem neuen Licht zeigt. Jedenfalls ist häufig vom „Kommissar Zufall“ die Rede, wenn es um den Durchbruch zur Aufklärung eines Kriminalfalles geht. Zwar ist die Quellenrecherche des Henle-Lektoren-Teams nicht mit den Ermittlungen von Kriminalbeamten zu vergleichen, aber Berührungspunkte ergeben sich insofern, als manchmal detektivisches Gespür zu der entscheidenden Nachfrage benötigt wird. Oder eben – und davon soll im Folgenden die Rede sein – Kommissar Zufall zum Einsatz kommt. Weiterlesen

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Sommerpause

Der Sommer ist da und unsere Komponisten brauchen mal eine kurze Pause!

Hier erholt sich zum Beispiel Sergej Rachmaninow von seinem anstrengenden Jubiläumsjahr 2023 bei einer Bootstour auf dem Vierwaldstättersee, zusammen mit seinen Töchtern Tatjana und Irina. Weiterlesen

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Wennʼs mal wieder eng wird – Lust und Leid der Urtext-Cover

Will man eine Henle-Ausgabe schnell beschreiben, so reicht ein Satz: Es sind die taubenblauen Notenhefte, auf deren Umschlag ohne jegliches Dekor nur Komponist und Titel stehen. Denn wo andere Verlage eine große Grafik-Abteilung beschäftigen und für verschiedene Komponisten, Epochen oder Besetzungen unterschiedlichste Schrifttypen, Designs und Illustrationen auswählen oder wenigstens die Farbe des Umschlagkartons variieren, herrscht bei Henle das strenge Regiment von B&B: Blauer Karton und der Schrift-Font Bodoni. Kann man über sowas einen Blog-Beitrag schreiben? Na klar! Denn zum einen ist es interessant, woher dieses reduktionistische Design kommt, zum anderen können wir Lektoren ein Lied davon singen, wie schwierig es manchmal ist, in den wenigen Zeilen, die unser strenges Layout vorsieht, auch wirklich alles zu sagen – oder zumindest so viel, dass man den Inhalt auf Anhieb erkennt. Weiterlesen

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Sergej Rachmaninows 3. Klavierkonzert – Außergewöhnliche Werke erfordern außergewöhnliche Lösungen

Erstausgabe A. Gutheil, Reprint

Wohl zu keinem anderen Werk haben wir in den letzten Jahren so viele Nachfragen von Musikern, Kunden und Händlern erhalten, wann denn endlich die Henle-Ausgabe dazu erscheinen werde… Die Rede ist natürlich von einem der größten „Schlachtrösser“ der Klaviergeschichte, dem 3. Klavierkonzert d-moll op. 30 von Sergej Rachmaninow.

Die Edition des monumentalen Konzerts mit 1162 Takten hat etwas Zeit in Anspruch genommen, aber seit August 2023 ist unsere Urtext-Ausgabe des Klavierauszugs (HN 1452) nun auf dem Markt – Zeit für einen kleinen Rundgang durch ihre außergewöhnlichen Eigenschaften! Weiterlesen

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Zur „zweiten Naivität“ Mozarts (Alfred Einstein)

Alfred Einstein
*1880 München – †1952 El Cerrito
© Smith College Archives

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich Alfred Einsteins Mozart-Biographie[i] zum ersten Mal gelesen habe. Höchstwahrscheinlich während meiner ersten Semester am Münchener Musikwissenschaftlichen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität, in denselben Räumen also, in denen Alfred Einstein ca. 80 Jahre vor mir dort ebenfalls Musikwissenschaft studiert hatte. Ende der 1930er-Jahre musste er als Jude mit seiner Familie aus München fliehen und emigrieren. Im Internet fand ich eine bewegende biografische Erinnerung von Einsteins Tochter Eva. Ihr, sowie Einsteins Ehefrau Hertha und seiner Schwester Bertha ist die Mozart-Biografie gewidmet: „Meinen ‚Drei Damen‘“ heißt es mozärtlich im Frontispiz. Weiterlesen

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Schönbergs „Verklärte Nacht“ in einer Urtext-Ausgabe der besonderen Art

Der 150. Geburtstag Arnold Schönbergs wird bei Henle gebührend gefeiert: pünktlich zu Jahresbeginn ist mit der Verklärten Nacht für Streichsextett (HN 1565) eines seiner populärsten Werke endlich auch im blauen Urtext-Umschlag erschienen. Unterstützt hat mich bei diesem Editionsprojekt einer der Schönberg-Spezialisten schlechthin: der Bratschist des ehemaligen Schönberg-Quartetts Henk Guittart, der auch als Dirigent viele Aufführungen von Verklärte Nacht geleitet hat. Noch bevor ich mit der Edition begonnen hatte, präsentierte er mir bereits lange Listen mit Fragen und Korrekturen zur Partitur, die aus seiner jahrzehntelangen Vertrautheit mit dem Werk resultierten. Im vergangenen Jahr haben wir dann unzählige Emails ausgetauscht mit Überlegungen zur Quellenlage im Allgemeinen und zu vielen Details der Partitur – denn genau in diesem Spannungsfeld zwischen Quellentreue und Praktikabilität galt es, einen Notentext zu konstituieren, der Urtext-Kriterien erfüllt, aber den Interpreten auch eine optimale Grundlage zum Musizieren an die Hand gibt. Warum das gar nicht so einfach war, haben wir im folgenden Interview noch einmal Revue passieren lassen. Weiterlesen

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