Isaac Albéniz (1860–1909)

Vor einigen Wochen berichtete an dieser Stelle mein Kollege Peter Jost über unser Engagement für die spanische romantische Musik. Mit Freude erinnere ich mich zurück an meine frühen Jahre im Verlag, als wir mit dem ersten Band der Iberia-Suite von Isaac Albéniz im Jahr 2002 dieses neue Programmsegment einläuteten. Doch nicht nur die bekannten Meisterwerke aus seiner Feder fanden den Weg in unseren Katalog.

Neben allen vier Iberia-Bänden mit Musik aus dem frühen 20. Jahrhundert (1905–1908) folgten im G. Henle Verlag zunächst weitere bekannte, folkloristisch geprägte Klavierzyklen und Einzelwerke aus Albéniz’ Feder: España (vor 1890), Mallorca (1890?), Chants d’Espagne (Beginn der 1890er Jahre) und Suite Espagnole (Stücke aus den 1880er und 1890er Jahren). Ein wenig im Abseits – in der Chronologie der Entstehung eingezwängt zwischen den sehr populären Stücken voller Lokalkolorit und den kolossalen, hochvirtuosen Bravurkompositionen der Iberia-Suite, steht La Vega (1897). Es ist mit 15 Minuten Spieldauer ein beeindruckendes Juwel aus der Feder des spanischen Komponisten, das in seinen zeitlichen Ausmaßen größer ist als jedes andere Stück der bekannten Zyklen. Und dennoch findet es nur schwer seinen Weg ins Repertoire.

La Vega ist inspiriert von einem Gedicht des englischen Anwalts und Poeten F. B. Money-Coutts (1852–1923), der dank eines geerbten Vermögens Albéniz für lange Zeit von sämtlichen finanziellen Sorgen befreien konnte. Der Komponist vertonte Money-Coutts’ Gedichte, und auch La Vega sollte wohl zunächst eine Liedkomposition werden, bevor Albéniz sich entschied, es zum einleitenden Stück eines nie weitergeführten Klavierzyklus The Alhambra Suite zu machen. Stattdessen wandte er sich nach einer mehrjährigen Pause schließlich ab 1905 derjenigen Suite zu, die ihn unsterblich machen sollte.

Titelblatt der Erstausgabe von La Vega

Money-Coutts’ Gedicht besingt die Schönheit der Landschaft um Granada, des Vorlandes der Sierra Nevada, und die überirdische Erscheinung der Alhambra. Hier die Zeilen im Original:

Granada.
O Land of flowers and sapphire skies
Where seraphs walk in sweet disguise
Of earthly maidens’ vesture!
Meseems thou keepest in thine eyes
The first, vast virginal surprise
Of God’s creative gesture!
The Angel of Art has sealed on thee
His signet and his sign,
The Alhambra! Like a phantasie,
Half human, half divine!
A marble fountain! Ocean shell!
Or flame, that coils and spires!
A perfect thought! As who should tell,
In one, the world’s desires!
Most gorgeous Word of blazoned Art,
In whose eternal scroll
The student who can read a part
Is master of the whole!

Verspüren Sie jetzt Reiselust? Dann schauen Sie sich folgende wunderbare Fotografie an und hören sie dazu diesen Konzertmitschnitt mit Arcadi Volodos. Zugegeben, die Tonqualität lässt zu wünschen übrig, aber die Atmosphäre ist schlichtweg atemberaubend. Wer es „ordentlicher“ möchte, hier die Einspielung von Alicia de Larrocha.

„Alhambra Fortifications Viewed from Below - Granada, Spain“ © Adam Jones

Milton Rubén Laufer, der Herausgeber unserer Urtextausgabe und seines Zeichens Pianist und Musikologe, machte La Vega zum Thema seiner 2003 erschienenen Dissertation (frei zugänglich hier), der auch dieser Blog verpflichtet ist. In seiner Arbeit bereitete er die Entstehungsgeschichte des Werks skrupulös auf. Unter anderem legte er die Mühen des Komponisten dar, dem Stück seine endgültige Form zu geben. Denn im Autograph strich Albéniz bald nach der ersten Niederschrift den ursprünglichen fünfseitigen Schluss, ergänzte stattdessen eine Wiederholung der ersten sechseinhalb Seiten des Manuskripts und schließlich einen neuen Schluss, der ebenfalls nochmals sieben Seiten lang ist. Dadurch wuchs La Vega von ursprünglich 18 auf 28 Seiten (in unserer Ausgabe ist der ursprünglich Schluss im Anhang wiedergegeben).

Ursprünglicher Schluss von La Vega, wurde gestrichen

Dies alles geschah in den ersten Monaten des Jahres 1897. Erst 1908 – nachdem bereits die Iberia-Suite erschienen war und kurz vor dem Tod des Komponisten – folgte die Erstausgabe durch den spanischen Verleger A. Díaz y Cía. in San Sebastián. Sie zeigt einige erhebliche Abweichungen von Albéniz’ Manuskript und es ist leider bis heute nicht geklärt, ob diese Änderungen auf den Komponisten zurückgehen oder von fremder Hand initiiert wurden (wir geben in unserer Ausgabe die Abweichungen des Autographs in Fußnoten wieder). Völlig unklar ist auch, warum der Verlag Edition Mutuelle, der die Druckplatten nach der Geschäftsaufgabe des Originalverlegers erworben hatte, zwischen 1910 und 1913 eine neue Ausgabe von La Vega herausgab, die an 500 Stellen von der Erstausgabe abweicht. Man kann wohl vermuten, dass diese Änderungen nicht mehr vom inzwischen verstorbenen Komponisten autorisiert waren, es sei denn, Albéniz hinterließ Aufzeichnungen, die eine weitere Revision des Stücks dokumentierten. So umgibt den Notentext eine Aura des Geheimnisses, ganz wie die atemberaubende Landschaft, die Inspirationsquelle dieses kleinen Meisterwerks war.

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