In meinem letzten Blog bin ich auf die Entstehungsgeschichte von Rachmaninows 2. Klaviersonate und ihren Uraufführungsort eingegangen, heute möchte ich mich einigen musikalischen Problemen in diesem Werk widmen. Oder eigentlich: in diesen beiden Werken, denn bekanntlich liegt die Sonate in zwei deutlich voneinander abweichenden Fassungen (von 1913 und 1931) vor, die beide vom Komponisten autorisiert und veröffentlicht wurden.
Es soll hier nicht darum gehen, die zahlreichen auffälligen Kürzungen und klar ersichtlichen Umarbeitungen des Klaviersatzes in der 2. Fassung aufzuzählen; diese wird jeder Pianist, der beide Fassungen nacheinander spielt, sofort selbst bemerken. Viel spannender sind die Stellen, an denen es gerade nicht klar ist, ob Rachmaninow hier wirklich revidieren wollte, oder ob nur ein Stichfehler in die Neuausgabe von 1931 gelangte (denn die Sonate musste wegen des neuen Umbruchs komplett neu gestochen werden, auch die Passagen, die im Prinzip unverändert blieben). Leider fehlt uns zur Klärung dieser Fragen eine sehr wichtige Quelle: das Handexemplar, in das Rachmaninow seine Revision eigenhändig eintrug. So ist man bis zur möglichen Wiederentdeckung dieser Partitur auf Spekulationen und vergleichende Überlegungen angewiesen.
Ein Beispiel für einen wohl eindeutigen Stichfehler in der Erstausgabe der 2. Fassung findet sich in T. 113 im 1. Satz: Der zweite Akkord in der linken Hand ist unten mit es1 notiert; sicherlich ein Versehen, wenn man sich die Parallelstelle in T. 38 und die 1. Fassung (dort T. 142) ansieht:
Umgekehrt versteckt sich aber genau an der gleichen Stelle ein Vorzeichenfehler in der 1. Fassung, der von Rachmaninow bei der Revision entdeckt und in der 2. Fassung beseitigt wurde:
Hier hilft uns also die revidierte Partitur nachträglich, Stichfehler in der 1. Fassung aufzuspüren. Doch die wenigsten Stellen sind so eindeutig, und man muss sich sehr davor hüten, das Kind mit dem Bade auszuschütten und die Lesarten der beiden Fassungen miteinander zu vermischen. So etwa im 1. Satz in T. 15–17, wo sich mehrere kleine Notenabweichungen finden:
Die Unterschiede in der 2. Fassung deuten hier auf eine bewusste Revision Rachmaninows hin (zumal er die Parallelstelle T. 106–108 in identischer Weise änderte). Durch die letzte Note b1 in T. 15 wird das Auftaktintervall zu einer Terz, in Angleichung an die analogen folgenden Figuren. Und durch die Änderungen in der linken Hand ergibt sich in den Spitzentönen eine gleichmäßige Sequenz (fallende Sekunde – steigende Quarte). Dennoch ist die Lesart der 1. Fassung dadurch nicht „falsch“ und darf keinesfalls rückwirkend geändert werden. Die spätere Variante wirkt zwar logischer, aber auch etwas langweiliger… Ähnlich in diesem Fall, wo ich das ursprüngliche a spannender finde als das as:
Das scheint mir eine generelle Tendenz der Rachmaninow’schen Revision von 1931 zu sein: Figuren und Sequenzen zu „glätten“ und in ein Schema zu bringen, wie auch die beiden letzten Beispiele aus dem Schlusssatz zeigen:
Im Zuge unserer kritischen Neuedition (HN1256) stieß ich auf etliche solche Fälle, die mir einiges Kopfzerbrechen bereiteten. Und natürlich maße ich mir nicht an, für alles die endgültige Lösung gefunden zu haben, aber mithilfe von Fußnoten und Bemerkungen wird der Benutzer unserer Ausgabe jeweils auf die Problematik und mögliche Alternativen aufmerksam gemacht. So wird jeder selbst entscheiden können, welche Lösung für ihn oder sie die musikalisch überzeugendste ist.