In wenigen Wochen geht ein von mir lang gehegter Traum in Erfüllung: Mozarts frühe Wiener Streichquartette KV 168 – 173 erscheinen im Herbst 2019 bei uns im Urtext (HN 1121 und HN 7121). Der von mir edierte und von unseren Herstellern wunderschön notengesetzte und gedruckte Text wird zwar keinen völlig „neuen Mozart“ präsentieren, aber doch im Detail ganz viele Verbesserungen für die quartettspielende Zunft aufweisen. Denn die Neue Mozart-Ausgabe (NMA), deren Notentext der Bärenreiter Verlag bis heute anbietet, konnte damals – 1966 – auf vier der sechs Autographe Mozarts nicht (!) zurückgreifen, als der Notenband erschien. 1989, vor genau 30 Jahren, hatte die NMA dann wenigstens Zugang zu den drei in Krakau liegenden Manuskripten: KV 169, 171, 173. Damals, noch Student der Musikwissenschaft, legte ich im Auftrag der NMA nachträglich den „Kritischen Bericht“ zu diesem NMA-Band vor (NMA VIII/20/Abt. 1/1: Streichquartette · Band 1, Kritischer Bericht, Kassel etc. 1989). Wenn jetzt diese Mozart-Werke, über die u.a. ich übrigens 1990 promovierte, nun in meiner eigenen Edition erscheinen, ist das für mich natürlich ein wunderbares Ereignis.
Heute will ich nur auf einen, eher äußerlichen Aspekt dieser Quartette eingehen, nämlich auf eine kleine, aber wie ich meine aufschlussreiche Aufschrift im Kopf der autographen Partitur des C-dur-Quartetts KV 170. Dieses Autograph war übrigens das einzige, das ich für meinen Kritischen Bericht 1989 nicht im Original einsehen konnte. Inzwischen ist auch dieses zugänglich, nämlich in der wunderbaren Paul Sacher Stiftung in Basel. Hier, als ein kleiner Service (nur für meine Blog-Leser), die Übersicht zu den Mozart-Autographen dieser sechs Streichquartette und die Links zu deren Digitalisaten (sofern vorhanden):
Mozart-Autographe | Die frühen Wiener Streichquartette KV 168 – 173
Nr. 1 | F-dur | KV 168 | kein Digitalisat Faksimile-Ausgabe G. Henle Verlag HN 3209 |
Nr. 2 | A-dur | KV 169 | Digitalisat |
Nr. 3 | C-dur | KV 170 | kein Digitalisat, aber Nachweis |
Nr. 4 | Es-dur | KV 171 | Digitalisat |
Nr. 5 | B-dur | KV 172 | Digitalisat |
Nr. 6 | d-moll | KV 173 KV 173/4 |
Digitalisat ursprüngliche Fassung: Digitalisat |
Mich interessiert in diesem Blog-Beitrag allein die Titelei im Kopf des Autographs des C-dur-Quartetts KV 170: „quartetto III“.
Die Überschrift stammt nicht von Mozart selbst, sondern von seinem Vater Leopold (dessen 300. Geburtstag wir diese Tage feiern). Der Vater war sichtlich sehr stolz, was sein siebzehnjähriger Sohn im August 1773 während eines gemeinsamen ausgedehnten Wien-Aufenthaltes zu Papier gebracht hatte:
„di Wolfgango Amadeo Mozart. | accademico di Bologna e di Verona“ schreibt er mit Tinte links oben auf die erste Seite. Wir erinnern uns: Mozart wurde 1770, erst 14jährig, nach Studien beim berühmten Kontrapunktiker Padre Martini als Mitglied in die noble „Accademia Filarmonica“ Bolognas aufgenommen. Warum der Vater allerdings auch die Akademie Veronas nennt, weiß ich nicht (war Wolfgang auch deren Mitglied?).
Wie dem auch sei: Auch die Überschrift „quartetto“ stammt von Leopold Mozarts Hand, während die römische „III“ dahinter in Bleistift vielleicht doch eher nach einer fremden Hand aussieht. So weit, so normal. Mir war damals in den zur Verfügung stehenden Fotos zwar die Tinten-Verwischung über dem Wort „Verona“ aufgefallen, jedoch war es unmöglich gewesen zu entziffern, was Leopold Mozart ursprünglich geschrieben hatte („unleserliche, verwischte Korrektur über Verona“ schreibe ich im einschlägigen Kritischen Bericht, S. a/65). Vor kurzem hatte ich nun das Privileg, Mozarts Original in den Räumen der Paul Sacher Stiftung vor Ort einsehen zu dürfen (es gibt dort auch hochauflösende Scans zu sehen, die genauso gut sind), und siehe da, Leopold hatte ursprünglich geschrieben, und dann ausgewischt: „Div[ertimento]“.
„Divertimento“ ist freilich die alte, gewissermaßen überwundene Titelei der Gattung Streichquartett. Joseph Haydn hatte seine frühesten Streichquartette in den 1760er-Jahren noch als „Divertimento“ bezeichnet, aber Mozart überschrieb bereits seine frühesten Quartette von 1770 und 1772/73 (KV 80, KV 155 – 160) mit dem „modernen“ Werkbegriff, der die Besetzung (4 Stimmen), nicht die Funktion (unterhaltend) im Blick hat. Leopold Mozart wischte also, seinen Irrtum sofort erkennend und das falsche Wort gar nicht mehr ausschreibend – die noch feuchte Tinte aus und korrigierte zum Besetzungstitel.
Mir scheint diese Kleinigkeit deshalb so wichtig, weil ich daran folgende Hypothese knüpfe: Alle anderen fünf Autographe der Streichquartette KV 168 – 173 tragen auf der autographen Titelseite von vornherein, unkorrigiert, das sozusagen richtige „quartetto“, nur KV 170 im ersten Anlauf noch nicht. (Das kann man alles im einschlägigen Kritischen Bericht nachlesen.) Daraus, und aus der Tatsache, dass nur in KV 170 das Autograph die gewissermaßen stolze Aufschrift und dazu noch ausnahmsweise links oben trägt („accademico di Bologna e di Verona“) schließe ich, dass das C-dur-Quartett KV 170 vermutlich Mozarts erstes der sechs Streichquartette war, das er in Wien 1773 niederschrieb. Die anderen fünf folgten darauf, behaupte ich. Denn in KV 168, 171 und 173 heißt es, rechts oben, abweichend von KV 170: „del Sgr. Caval: [KV 173 nur „Cav:“] Amadeo Wolfgango Mozart“, in KV 168, nachdem die verbindliche Reihenfolge der sechs Quartette nachträglich (!) geklärt worden war, noch mit dem Reihentitel-Zusatz: „6 quartetti del Sgr: Caval: …“ (KV 169 und 172 tragen gar keine entsprechende Signierung).
In welch verhunzter Form dann das C-dur-Quartett erstmals postum im Druck erschien (nämlich kurz nach Mozarts Tod in einer korrumpierten Zusammenwürfelung mit einem Satz aus dem früheren C-dur-Streichquartett KV 157) steht auf einem anderen Blatt, und könnte in einem nächsten Blog-Beitrag von mir einmal eine Rolle spielen.