Fer­di­nand David (1810–1873). Li­tho­gra­phie von J. G. Wein­hold, Leip­zig 1846

Die Po­sau­ne ist ein In­stru­ment mit einer alt­ehr­wür­di­gen, aber auch wech­sel­vol­len Ge­schich­te. Nach ihrer ers­ten gro­ßen Blü­te­zeit in Re­nais­sance und Früh­ba­rock führ­te sie im spä­ten 17. und im 18. Jahr­hun­dert lange ein Ni­schen­da­sein, und erst Beet­ho­ven ver­dan­ken wir ihre „Wie­der­ein­glie­de­rung“ ins Sym­pho­nie­or­ches­ter, aus dem sie seit­her nicht mehr weg­zu­den­ken ist (vgl. un­se­ren Blog­bei­trag zum Beet­ho­ven-Jahr 2020). Als ve­ri­ta­bles So­lo­in­stru­ment kam die Po­sau­ne aber erst im 20. Jahr­hun­dert rich­tig zur Gel­tung – vor allem im Jazz wur­den ihre viel­fäl­ti­gen Klang­far­ben und Spiel­tech­ni­ken ge­schätzt (hier eine klei­ne Kost­pro­be des le­gen­dä­ren J. J. John­son).

Das klas­sisch-ro­man­ti­sche So­lo­re­per­toire für Po­sau­ne ist hin­ge­gen be­dau­er­lich klein, und so fan­den sich auch im Hen­le-Ka­ta­log bis­her le­dig­lich vier Aus­ga­ben für das In­stru­ment: Das Morceau sym­pho­ni­que op. 88 von Alex­and­re Guil­mant (HN 1090) und die Ca­vati­ne op. 144 von Ca­mil­le Saint-Saëns (HN 1119), beide für So­lo­po­sau­ne mit Kla­vier­be­glei­tung; au­ßer­dem die Equa­le von Beet­ho­ven (HN 1151) und Bruck­ner (HN 1157) für Po­sau­nen­quar­tett bzw. ‑trio.

Ken­ner der Po­sau­nen­li­te­ra­tur wer­den hier ein Werk ver­mis­sen, und wir sind sehr glück­lich, dass wir es nun end­lich auch im Hen­le-Ur­text vor­le­gen kön­nen: Fer­di­nand Da­vids Con­cer­ti­no Es-dur op. 4 für Po­sau­ne und Or­ches­ter (Kla­vier­aus­zug: HN 1155). Die­ses be­zau­bern­de Kon­zert­stück, kom­po­niert 1837 in Leip­zig in bes­ter „men­dels­soh­ni­scher“ Schreib­wei­se, zählt heute zu den welt­weit meist­ge­spiel­ten Po­sau­nen­kom­po­si­tio­nen und ist zum un­ver­zicht­ba­ren Stan­dard­werk für Pro­be­spie­le und Wett­be­wer­be ge­wor­den.

Wie lei­der häu­fig der Fall, steht die Be­liebt­heit die­ses Wer­kes in kras­sem Ge­gen­satz zur Qua­li­tät und Zu­ver­läs­sig­keit der bis­her ver­füg­ba­ren Aus­ga­ben. Uns ist keine mo­der­ne Edi­ti­on be­kannt, in der die So­lo­stim­me nicht vom je­wei­li­gen Her­aus­ge­ber mehr oder we­ni­ger stark „ein­ge­rich­tet“ wurde: mit zu­sätz­li­chen An­ga­ben zu Ar­ti­ku­la­ti­on und Dy­na­mik, er­gänz­ten Aus­drucks­an­wei­sun­gen, Än­de­run­gen von Rhyth­mus und Ton­hö­hen oder sogar von gan­zen Ton­pas­sa­gen; wohl­ge­merkt alles ohne Kenn­zeich­nung als freie Her­aus­ge­ber­zu­tat. Hier ein klei­ner Ein­druck am Bei­spiel der letz­ten Takte vor Be­ginn des lang­sa­men Sat­zes – zum Ver­gleich zei­gen wir auch die Ori­gi­nal­fas­sung der 1838 er­schie­ne­nen Erst­aus­ga­be, die von Fer­di­nand David au­to­ri­siert wurde; die auf­fäl­ligs­ten Ab­wei­chun­gen davon sind gelb mar­kiert:

Erst­aus­ga­be Kist­ner 1838, T. 118 bis Ende Satz I

Aus­ga­be J.​H.​Zimmer­mann, Hrsg. Ro­bert Mül­ler

Aus­ga­be IMC, Hrsg. Wil­li­am Gib­son

Aus­ga­be A.​E.​Fischer/A.​Benjamin, Hrsg. Fritz Grube

Aus­ga­be Fr.​Hofmeis­ter, Hrsg. un­be­kannt

Höchs­te Zeit also für uns, den David’schen Ur­text wie­der frei­zu­le­gen und der Po­sau­nis­ten­welt in einer ver­läss­li­chen Neu­aus­ga­be zur Ver­fü­gung zu stel­len! Für diese wich­ti­ge Edi­ti­on hät­ten wir wohl kei­nen bes­se­ren Her­aus­ge­ber fin­den kön­nen als Se­bas­ti­an Krau­se, So­lo­po­sau­nist des MDR-Sin­fo­nie­or­ches­ters in Leip­zig, Hoch­schul­do­zent und Spe­zia­list für die Ge­schich­te der Po­sau­ne ins­be­son­de­re im mit­tel­deut­schen Raum. Se­bas­ti­an Krau­se ver­fügt nicht nur über jahr­zehn­te­lan­ge spiel­prak­ti­sche und künst­le­ri­sche Er­fah­run­gen mit dem Da­vid-Con­cer­ti­no, er hat auch einen grund­le­gen­den Bei­trag zur Er­for­schung sei­ner Ent­ste­hungs­ge­schich­te ge­leis­tet, ins­be­son­de­re zur Bio­gra­phie des ers­ten In­ter­pre­ten und mut­maß­li­chen Auf­trag­ge­bers, des Po­sau­nis­ten Carl Trau­gott Queis­ser (1800–1846).

Queis­ser war So­lo­brat­schist am Ge­wand­haus­or­ches­ter in Leip­zig, zu­gleich aber auch ein Po­sau­nen­vir­tuo­se von in­ter­na­tio­na­lem Rang. Er ge­noss sei­ner­zeit ein so hohes An­se­hen in Deutsch­land und dar­über hin­aus, dass er auf Kon­zer­tan­kü­nd­igu­ngen gleich­ran­gig mit Künst­lern wie Franz Liszt oder Ignaz Mo­sche­les ge­nannt wurde. Ro­bert Schu­mann be­zeich­ne­te Queis­ser in einem Ar­ti­kel zum Leip­zi­ger Or­ches­ter­le­ben gar als „Po­sau­nen­gott“…!

Das Po­sau­nen­mo­dell Leip­zi­ger Bau­art, wie es Queis­ser ver­mut­lich spiel­te:
Weit­mensu­rier­te Te­n­or­bass-Po­sau­ne von Chris­ti­an Fried­rich Satt­ler, 1841.
Mu­se­um für Mu­sik­in­stru­men­te der Uni­ver­si­tät Leip­zig.
https://​www.​europeana.​eu/​de/​item/​09102/_​ULEI_​M0003731
(Li­zenz: Crea­ti­ve Com­mons BY-NC-SA)

Queis­ser war eng be­freun­det mit dem Kon­zert­meis­ter des Ge­wand­haus­or­ches­ters – kein an­de­rer als eben­je­ner Fer­di­nand David, sei­ner­zeit einer der be­rühm­tes­ten Gei­gen­vir­tuo­sen Deutsch­lands (für ihn kom­po­nier­te Felix Men­dels­sohn Bar­thol­dy sein Vio­lin­kon­zert). David war auch als Kom­po­nist tätig und schrieb sei­nem Freund das Po­sau­nen-Con­cer­ti­no so­zu­sa­gen auf den Leib (zu wei­te­ren in­ter­es­san­ten De­tails der Ent­ste­hungs­ge­schich­te siehe das Vor­wort un­se­rer Edi­ti­on).

Lei­der ist das Par­ti­tur­au­to­graph des Con­cer­ti­nos ver­schol­len, so dass uns als Haupt­quel­le die oben er­wähn­te Erst­aus­ga­be dien­te, die 1838 bei Carl Fried­rich Kist­ner in Leip­zig er­schien. Sie ist grund­sätz­lich eine ver­läss­li­che Quel­le und gibt zwei­fel­los Da­vids In­ten­tio­nen wie­der. Die So­lo­stim­me weist aber ei­ni­ge Stich­feh­ler und Un­ge­nau­ig­kei­ten auf, die zu be­rei­ni­gen waren.

Ori­gi­na­les Schall­stück einer Te­n­or­po­sau­ne von C. F. Satt­ler, ca. 1840er-Jah­re.
Pri­vat­be­sitz Se­bas­ti­an Krau­se

Hier­bei kam uns ein glück­li­cher Um­stand zu Hilfe: Fer­di­nand David er­stell­te näm­lich 1838 auch ein Ar­ran­ge­ment des Po­sau­nen-Con­cer­ti­nos für Vio­lon­cel­lo und Kla­vier, si­cher in der Ab­sicht, das Werk einem brei­te­ren Mu­si­ker­kreis zu­gäng­lich zu ma­chen. Diese ei­gen­hän­di­ge Be­ar­bei­tung ver­öf­fent­lich­te David eben­falls 1838 bei Kist­ner, und wir konn­ten nicht nur ein Ex­em­plar der sehr sel­te­nen Druck­aus­ga­be fin­den, son­dern sogar das Au­to­graph dazu! Es be­fin­det sich heute in der Bi­blio­thek der Nor­thwes­tern Uni­ver­si­ty in Evans­ton, Il­li­nois, und wurde un­se­res Wis­sens bis­her noch nicht wis­sen­schaft­lich aus­ge­wer­tet.

Na­tür­lich weicht die So­lo­stim­me der Cello­fas­sung durch die strei­cher­ge­ma­̈ße Ein­rich­tung in vie­len klei­nen De­tails vom Ori­gi­nal ab: un­ter­schied­li­che Bo­gen­set­zung, teil­wei­se an­de­re Ak­kord­bre­chun­gen und Fi­gu­ra­tio­nen, Ver­wen­dung von Dop­pel­grif­fen u. v. m. Zudem trans­po­nier­te David das Stück einen Halb­ton nach unten, in die für das Cello bes­ser lie­gen­de Ton­art D­-dur. Den­noch gibt die­ses Ar­ran­ge­ment oft hilf­rei­che Hin­wei­se und Be­stä­ti­gun­gen zu Stich­feh­lern in der ur­sprüng­li­chen Po­sau­nen­fas­sung. Ein Bei­spiel hier­zu:

In Takt 121 steht in der Po­sau­nen­stim­me kein Vor­zei­chen vor dem as (was nicht so recht zur Har­mo­nie in der Or­ches­ter­be­glei­tung passt), und gleich im fol­gen­den Takt wirkt das Re­pe­tie­ren der Note des1 mu­si­ka­lisch merk­wür­dig:

Die Cello­fas­sung be­stä­tigt die Ver­mu­tung, dass hier ein Auf­lö­se­zei­chen bzw. ein Hal­te­bo­gen zu er­gän­zen sind:

 

 

 

 

 

 

Wei­te­re Flüch­tig­keits­feh­ler der Erst­aus­ga­be fin­den sich ge­le­gent­lich bei den Ar­ti­ku­la­ti­ons­be­zei­chun­gen. Hier­zu macht unser Her­aus­ge­ber Se­bas­ti­an Krau­se ei­ni­ge be­hut­sa­me Er­gän­zungs­vor­schlä­ge, die in un­se­rer Edi­ti­on durch Klam­me­rung stets ein­deu­tig ge­kenn­zeich­net sind. Ein Bei­spiel: ver­gleicht man T. 315–317 mit den ana­lo­gen Tak­ten in der Ex­po­si­ti­on (T. 111–113), so feh­len in der Re­pri­se ei­ni­ge An­ga­ben wie die Cre­scen­do-Ga­bel oder man­che Ak­zen­te si­cher nur ver­se­hent­lich in der Erst­aus­ga­be, so dass wir sie in un­se­rer Edi­ti­on ge­klam­mert hin­zu­ge­fügt haben:

Un­se­re Ur­text-Aus­ga­be bie­tet somit end­lich einen ge­si­cher­ten No­ten­text als Grund­la­ge für mö­glich­st au­then­ti­sche In­ter­pre­ta­tio­nen im Sinne des Kom­po­nis­ten. Wir wün­schen allen Po­sau­nis­tin­nen und Po­sau­nis­ten viel Er­folg beim Ein­stu­die­ren und Auf­füh­ren die­ses Stan­dard­werks – damit sie eben­so wie da­mals Carl Trau­gott Queis­ser in der Zei­tung über sich lesen kön­nen: „Er be­zwingt nicht nur gros­se Schwie­rig­kei­ten auf dem sonst un­be­hü­lfl­ichen In­stru­men­te, son­dern spielt auch voll­kom­men rein, pra­̈cis und mit an­ge­nehm übe­rr­asche­nder De­li­ca­tes­se.“

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2 Antworten auf »Ein Konzert für den „Posaunengott“ – Ferdinand Davids Concertino op. 4 endlich im Henle-Urtext«

  1. Kanz Joseph sagt:

    Sg. Damen und Herren,
    während und auch kurz nach meinem Kapellmeisterstudium am R.Strauss-Konservatorium/München, habe ich viele Posaunisten mit diesem Konzert korrepetiert. Auf ein Dauerproblem, das schon bei Probespielen über ein Weiterkommen in die nächste Runde entschieden hat, habe ich noch nie etwas Schlüssiges und Vernünftiges gelesen. Werden die Punktierungen – nach barocker und auch noch klassischer Manier – an die Triolen angeglichen, ‘überpunktiert’ oder gar ganz genau ‘mathematisch’ gespielt.
    (Ich tendiere zur barocken, unkomplizierten Spielweise, die dem Spieler hilft, aber ich habe viele Posaunisten stöhnen hören: “So kann ich es nicht spielen, sonst fliege ich schon nach den ersten Tönen raus.”)

    Auch sollte man das Werk so einrichten, dass es mit zwei Hörner gut klingt, die Posaunen im Orchester könnten für Stichnoten zur Verfügung stehen. Das würde Aufführungen erleichtern.
    (Dass eine gute Fassung für Militärmusik (Concert Band) und Soloposaune fehlt, ist schade. Ich würde gerne – als alter ‘Musikmeister’ diese für Henle erstellen; schon historisch korrekt (19. Jhdt.) instrumentiert, aber mit der Möglichkeit, das Werk auch mit moderner Besetzung, d.h. mit Saxofonen & cetera zu spielen.) Die existierenden Fassungen – es soll einige geben – sind halt so ‘Irgendwie-Fassungen’

    Herzlichst, Euer
    KANZ Joseph

    P.S.: Der Posaunist Armin ROSIN, den ich zufällig vor sehr vielen Jahren bei einem Kurkonzert meines Hessischen Polizeiorchesters traf, erzählte mir dabei, dass er eine Kopie des Autografen hätte. Leider kam es – aus vielen Gründen – zu keinem weiteren Kontakt zwischen uns beiden.

    • Lieber Herr Kanz,
      vielen Dank für Ihre Anmerkungen! Die Frage der rhythmischen Ausführung von Punktierungen im triolischen Kontext begegnet einem ja ständig, etwa in Schuberts Klaviersonaten. Im Falle des Posaunen-Concertinos denke ich aber, dass David die punktierte Notation durchaus ernst gemeint hat und er eine exakte (also nicht-triolische) Ausführung wünschte. Denn für letztere verwendet er bewusst die (im modernen Sinne) korrekte Notation Viertel+Achtel mit Triolenziffer, wie das untenstehende Beispiel aus T.111 und T.115 zeigt. (Hier klicken für eine größere Auflösung.)
      Eine Neuinstrumentierung des Concertino könnte sicher reizvoll sein, wäre aber natürlich kein Urtext mehr und daher nichts für Henle; bestimmt wären aber Blasmusik-Verlage daran interessiert.
      Herzliche Grüße, Dominik Rahmer

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