Nein, die Überschrift ist kein Tippfehler. Die kürzlich erschienene Janáček-Ausgabe heißt natürlich Auf verwachsenem Pfade (HN 1505). Wenn man sich aber als Herausgeber und Lektor auf die Suche nach dem gültigen Urtext dieses Werkes macht, muss man sich wahrlich auf verschlungene Pfade begeben. Aber beginnen wir von vorn.
Unter den zahlreichen Projekten, die über meinen Schreibtisch wandern, gibt es immer wieder solche, die ich als besondere Herzensangelegenheiten bezeichnen würde. Der Verwachsene Pfad gehört sicher dazu. Nachdem im G. Henle Verlag ja schon einige repräsentative Urtext-Ausgaben von Werken Janáčeks erschienen sind (immer in Kooperation mit der Universal Edition, Wien), habe ich mich besonders darauf gefreut, endlich den Verwachsenen Pfad angehen zu können, sicher Janáčeks bedeutendstes Klavierwerk. Herausgegeben werden unsere Janáček-Ausgaben von Jiří Zahrádka, dem wichtigsten Experten weltweit und Leiter der Janáček-Abteilung des Mährischen Museums in Brünn – wo daher alles begann. Zusammen mit Heinz Stolba von der Universal Edition trafen wir uns dem Anlass entsprechend im Janáček-Haus, das nicht nur ein Museum mit originalen Räumen beherbergt, sondern auch ein einzigartiges Archiv mit allen relevanten Quellen zu Leben und Werk des Komponisten. Bei diesem Treffen präsentierte Zahrádka uns das originale Quellenmaterial für den Verwachsenen Pfad (Manuskripte und Drucke), und wir hatten Gelegenheit die editorischen Grundsätze, aber auch Inhalt und Umfang unserer Ausgabe zu diskutieren. Denn wie so oft bei Janáček hat der Klavierzyklus eine lange und verworrene Entstehungsgeschichte, in deren Verlauf immer wieder Einzelstücke hinzukomponiert, verworfen, für eine zweite Reihe vorgesehen und dann aber doch nicht vollendet wurden. Wir waren uns schnell einig, dass unsere Ausgabe alles musikalische Material enthalten muss, das im Zusammenhang mit dem Verwachsenen Pfad überliefert ist – keine leichte Aufgabe.
Dies ist nicht der Ort, die Entstehungsgeschichte zu duplizieren, die Zahrádka mustergültig und detailliert in unserem Vorwort ausbreitet. Nur soviel sei gesagt: Die Miniaturen entstanden ursprünglich für Harmonium, zunächst nur sechs Stücke, von denen fünf 1901/1902 im Druck erschienen. Erst Jahre später befasste sich der Komponist erneut mit diesem Werk, das er nun ausdrücklich als Klavierzyklus bezeichnete. Zudem komponierte er neue Stücke hinzu, sodass der Zyklus 1908 schließlich zehn Stücke umfasste, die übrigens erst in dieser Zeit ihre poetischen Titel erhielten (der Titel Auf verwachsenem Pfade für den Gesamtzyklus hingegen stand schon in der frühesten erhaltenen Quelle aus der Zeit um 1900 fest). Bis zur Veröffentlichung der nun zehnteiligen Sammlung vergingen jedoch noch einmal drei Jahre. Merkwürdigerweise ist aus dem Erscheinungsjahr 1911 überliefert, dass sich Janáček nun schon mit einer „zweiten Reihe“ beschäftigte, die sogar in einer Zeitschrift angekündigt wurde. Diese blieb aber Torso, nur ein einziges Stück dieser neuen Reihe erschien im Druck, ein zweites ist in einem Manuskript erhalten. Ein drittes blieb unvollendet.
Wie sollten wir damit umgehen? Uns schien die beste Lösung, zunächst die zehn Stücke der ersten Reihe zu veröffentlichen und daran die zwei vollendeten Stücke der zweiten Reihe anzuschließen. In einem Anhang bringt unsere Ausgabe zwei Stücke, die Janáček sozusagen unterwegs auf dem Pfad aus der ersten Reihe beiseitegelegt hatte. Und auch das unvollendete Stück aus der zweiten Reihe steht bei uns im Anhang – in der Form, wie Janáček es zunächst sauber abschreiben ließ, bevor er begann, in dieses Manuskript mit Bleistift Änderungen einzutragen. Die Korrekturen sind nämlich kaum leserlich, widersprüchlich und lückenhaft, sodass sich eine endgültige Form des Stückes nicht rekonstruieren lässt. Uns erschien es wichtig, auch diesen Eindruck zu vermitteln, weshalb unsere Ausgabe im Anschluss an den Notentext eine vierseitige Reproduktion der Originalquelle des unvollendeten Stückes enthält. So können sich alle ein Bild davon machen, was den Komponisten hier möglicherweise umtrieb.
Es war also schon eine Herausforderung, allein den Inhalt der Ausgabe zu bestimmen. Eine noch schwierigere Aufgabe war jedoch eindeutig das editorische Vorgehen, denn wie der Entstehungsprozess vermuten lässt, ist die Quellenlage unübersichtlich. Nur ein Stück ist als Autograph erhalten (aus der zweiten Reihe), aber zahlreiche Abschriften, Drucke aus verschiedenen Stadien und auch Korrekturfahnen mit Janáčeks Eintragungen zeugen von der jahrelangen Beschäftigung mit diesem Zyklus. Obwohl wir eine vom Komponisten autorisierte Erstausgabe zumindest der ersten Reihe besitzen, wirft der Notentext an unzähligen Stellen Fragen auf, die es zu klären gilt.
Eine Ursache für die vielen Unklarheiten mag Janáčeks schwer lesbare Handschrift sein. Um Ihnen ein Bild davon zu vermitteln, rechts eine Seite des Autographs von Nr. 2 aus der zweiten Reihe. Vieles ist hier nur skizzenhaft angedeutet. Die Aufgabe von Kopisten war es, diese Autographe in deutlich lesbare Manuskripte zu übertragen, wobei natürlich Fehler passierten. Die Abschriften wurden von Janáček durchgesehen, teils erneut abgeschrieben, schließlich dem Verlag zum Druck übergeben. Im Herstellungsprozess unterliefen dem Notenstecher wiederum Fehler, die Janáček durch Korrekturlesungen zu beseitigen versuchte. Erhaltene Korrekturfahnen zeugen davon, dass der Komponist tatsächlich sehr genau hinschaute. Aber alle Fehler sah er nicht und alle Unklarheiten beseitigte er auch nicht; missverständliche Korrekturen sorgten gar für neue Verwirrung.
So kommt es dazu, dass unser Herausgeber Zahrádka bei vielen Textfragen von der autorisierten Erstausgabe ausgehend immer wieder durch alle Quellenschichten zurückgehen musste. Er bewies dabei archäologisches Gespür, denn stets ging es darum, ältere Werkschichten freizulegen und dadurch Antworten auf unsere Fragen an den überlieferten Notentext zu finden. Zwei Beispiele möchte ich herausgreifen.
In Nr. 2 aus Reihe I sind in T. 33 und 34 Noten in der Unterstimme der rechten Hand unklar. Es geht um die Noten ges1 und f1, beide unmittelbar um den Taktstrich herum.
In den ältesten Quellen – den beiden Abschriften zur Harmoniumfassung – steht in T. 33 ges1, wie in unserer Ausgabe. In der Erstausgabe der Harmoniumfassung und in allen nachfolgenden Quellen steht allerdings es1. Eine nachträgliche Änderung Janáčeks? Im Korrekturabzug, den Janáček sah, steht jedenfalls es1, unkorrigiert. In T. 34 steht in der Erstausgabe des Gesamtzyklus als erste untere Note des2 (gleiche Note wie Oberstimme! So auch im Korrekturabzug, wiederum unkorrigiert). Alle früheren Quellen haben jedoch f1. In beiden Fällen haben wir den frühen Quellen den Vorzug gegeben, weil wir glauben, dass es sich bei den späteren Lesarten um Versehen handelt, die Janáček schlichtweg durchgingen. Fußnoten in unserer Ausgabe machen jedoch auf beide Alternativen aufmerksam.
Das zweite Beispiel stammt aus Nr. 5, Reihe I. In T. 10 lautet die 2. Note der rechten Hand in der Erstausgabe eindeutig es2. In der Abschrift hingegen (in diesem Fall die einzige frühere Quelle) steht ein e2, mit Warnvorzeichen ♮. Was ist richtig? Die frühe Fassung oder die späte? Ein Blick in den Korrekturabzug enthüllt Erstaunliches. Der Stecher der Erstausgabe hatte nämlich ursprünglich ein e2 gestochen, allerdings ohne Warnvorzeichen. Janáček ergänzte im Fahnenabzug ein Korrekturzeichen vor dieser Note und schrieb in den entsprechenden Randvermerk eindeutig ein ♮.
Der Stecher, der Janáčeks Korrekturen umsetzte, verlas sich aber offensichtlich, achtete nicht auf den Randvermerk und interpretierte das Korrekturzeichen als ♭. So erschien die Erstausgabe und auch ein Nachdruck (zu Janáčeks Lebzeiten) mit es2, ohne dass der Komponist protestiert hätte. Das es2 hat durch T. 2 eine gewisse Plausibilität, aber der abweichende harmonische Kontext und Janáčeks Eintragung im Korrekturabzug lassen keinen Zweifel, dass eigentlich e2 gemeint ist.
Dies sind nur zwei Beispiele für die wahrhaftig „verschlungenen Pfade“, die unser Herausgeber Zahrádka gehen musste, um aus der Quellenlage einen zuverlässigen Urtext zu destillieren. Insgesamt haben wir uns jedoch bemüht, möglichst viele Eigenheiten der Notation Janáčeks spürbar werden zu lassen. So bewahren wir manche rhythmische Notation, die nach modernen Maßstäben ungewöhnlich erscheint, bewusst, wenn die Ausführung eindeutig ist. Auch Noten, die nach harmonischem Kontext eigentlich enharmonisch umgedeutet werden müssten, haben wir so wie vom Komponisten notiert belassen. Janáčeks ganz individuelle Tonsprache, die sich mitunter auch in eigenwilliger Notation ausdrückt, wird so in dieser neuen Urtextausgabe transparent.
Ein großer Dank an Jiří Zahrádka und Heinz Stolba dafür, dass wir uns gemeinsam auf diesen Verwachsenen Pfad (hier in einer schönen Aufnahme von Ivan Klánský) begeben konnten!
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Der große Pianist Lars Vogt steuerte den Fingersatz für diese Ausgabe bei. Tragischerweise verstarb er, kurz nachdem er mir seine letzten Korrekturen übermittelte hatte. Diese Musik bleibt für mich immer mit Lars Vogt verbunden!